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Online veröffentlicht am 08. Januar 2024

Autorin: Li Shalima

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1. Das Geheimnis der ungeteilten Aufmerksamkeit

Nach dem zweiten Weltkrieg gründete die Kinderärztin Emmi Pikler 1946 in Budapest das Kinderheim Lóczy. Dieses besondere Konzept, das sie für Waisen und Pflegekinder entwickelt hat, wurde später von ihrer Tochter Anna Tardos übernommen und bis heute konsequent weitergeführt. Denn es hat sich bewährt. Das Besondere an diesem Pflegekonzept sind zwei Dinge, die mich bis heute faszinieren und überzeugen. Vor allem auch deshalb, weil wir die tiefer darunter liegende innere Haltung dem Leben gegenüber leicht übernehmen und auf alle unseren Beziehungen übertragen können. Die erste Säule dieser „Friedens-Pädagogik”, sie selbst hätte es vielleicht nie so genannt, ist die ungeteilte Aufmerksamkeit bei der Pflege. Die zweite lässt sich als „mitwachsender Laufstall” zusammenfassen. Zunächst zum ersten Punkt, der »ungeteilten Aufmerksamkeit« – was bedeutet das? Die Säuglinge und Kleinkinder bekommen bei der Körperpflege und Nahrungsgabe die ungeteilte Aufmerksamkeit. Heute würde ich sagen, das erfüllt den Kindern und den Erzieherinnen gleichermaßen die Bedürfnisse nach Autonomie und Verbindung. Die betreuende Person bleibt die ganze Zeit in Augenkontakt mit dem Kind. Und alles, was sie tut, kommentiert sie liebevoll, und zwar in einer respektvollen, erwachsenen Sprache. Das Kind wird gewissermaßen in Worten gebadet. Das gibt ihm Sicherheit. Es kann die Nähe genießen, denn es weiß, dass die „Mutter” in dieser kostbaren Zeit auch das klingelnde Telefon ignoriert. Weil sich diese Zeiten zuverlässig wiederholen, entsteht keine Verlustangst. Dadurch sind die Kinder in der restlichen Wachzeit innerlich frei. Und das müssen sie sein, damit sie ungestört ihre Säuglingsarbeit machen können. So hat es Emmi Pikler genannt: das eigenständige Erforschen von sich selbst und der Umwelt, durch Erfühlen und Lauschen und Schauen und Probieren.

Entwicklung ist ein Grundbedürfnis und dazu müssen Kinder nicht motiviert werden, wenn wir ihnen ihre intrinsische Motivation bewahren. Kinder wollen wachsen und sie möchten sich zu dem entwickeln, was sie in sich tragen und die Person werden, zu der sie geboren worden sind. Das nennt man das Bedürfnis nach Individuation. Sprich, sie wollen nichts anderes tun, als sich zu erfolgreichen glücklichen Menschen entwickeln. Und dieser innere Drang nach Individuation verläuft nach sensitiven Phasen (siehe Maria Montessori). Das heißt, wir sind von Geburt an, und auch bis hin zu unserem Tod, immer wieder über gewisse Zeiträume hinweg besonders empfänglich für bestimmte Lernerfahrungen. Die sensiblen Phasen sind für unseren eigenen Lebensweg wichtig. Sie sind sehr individuell, auch wenn es entwicklungspsychologische Übereinstimmungen gibt.

Diese Phasen können aber variieren, was den Zeitpunkt und ihre Dauer betrifft. Es ist eben ganz individuell, wie sich Menschen entwickeln – nicht besser oder schlechter. Unsere Aufgabe als Erwachsene ist es, die Kinder dabei zu beobachten, um herauszufinden, was sie brauchen, sie dabei zu begleiten und zu unterstützen. Das Beste, was wir für unsere Kinder tun können, ist, ein Umfeld dafür zu schaffen und an ihren Erfolgen und ihrer Lebensfreude Anteil zu nehmen. Anteilnahme ist ein wichtiges Grundbedürfnis. Mit der Unterstützung drücken wir unsere Wertschätzung aus. Denn mit der richtigen Unterstützung zur rechten Zeit fällt uns das Lernen leicht. Es geht wie von selbst. Verpasste sensitive Phasen sind schwer nachzuholen. Angebote, die zu früh oder zu spät gemacht werden, geben uns das Gefühl, Lernen sei mühsam und schwer. Wir wissen dann aber nicht, dass wir nicht dumm und auch nicht faul sind, sondern, dass uns das Lernen nur deshalb schwer fällt, weil uns derzeit die natürliche Aufnahmefähigkeit und Begeisterung fehlt. Wenn wir immer zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen sind, werden wir verinnerlicht haben, dass das Leben mühsam und schwer ist. Das senkt das Selbstwertgefühl, verletzt unser Bedürfnis nach Eigenmacht und macht uns anfälliger für Unterwerfung und die Sucht nach Bestätigung von Außen. Werden unsere Grundbedürfnisse von klein auf nicht erfüllt, suchen wir nach Strategien, um die schmerzhaften Gefühle dieses Verlustes zu betäuben. Und Angebote dafür gibt es in einer wachstumsorientierten Konsumgesellschaft mehr als genug.

So einfach wechseln wir die Spur in ein kapitalistisches Suchtsystem, auf dessen Weg wir langfristig unsere eigene Lebensgrundlage und uns selbst zerstören. Inzwischen wird die Zeit, um diese Spur zu verlassen, ziemlich knapp. Das Konzept der ungeteilten Aufmerksamkeit, als Geschenk für eine verabredete Zeit, regelmäßig und zuverlässig, ist auch für jede andere Form von Liebesbeziehung ein großes Geheimnis, das Nachhaltigkeit verspricht. Das Bedürfnis nach Fortpflanzung bedeutet ja nicht nur, dass wir Kinder gebären wollen. Ich verstehe es als ein Grundbedürfnis nach Zukunft. Wir wünschen uns, dass etwas weitergeht, dass etwas, das wir lieben, Bestand hat. Zuzusehen, wie uns nach und nach alles Liebenswerte auf dieser Erde verloren geht, löst unglaublich schmerzhafte Gefühle aus, dessen Ausmaß wir uns noch gar nicht bewusst sind.

2. Grenzen als Schlüssel zur Freiheit

Die zweite, wichtige, tragende Säule im Lóczy ist das Konzept der „Vorbereiteten Umgebung”, der mitwachsende „Laufstall”. Es gibt einen sehr berührenden Film über das Lóczy, in dem man die winzig kleinen Kinder dabei beobachten kann, wie sie über lange Zeit vollkommen still und ruhig und sehr konzentriert ihre Umgebung, sich selbst, andere Kleinkinder und die verschiedensten Gegenstände erkunden. Der mitwachsende Laufstall, was bedeutet das? Es bedeutet, dass wir Schutzräume schaffen, die den Interessen und Fähigkeiten der Kinder dahingehend angepasst sind, dass sie vollkommen frei von jeglicher Verletzungsgefahr ihren Bedürfnissen nach Lernen, Kreativität und Hingabe nachkommen können. Die vorbereitete Umgebung sichert ihre körperliche als auch seelische Unversehrtheit. Das macht nicht nur die Kinder frei, sondern entlastet auch die betreuenden Erwachsenen, schafft es doch auch ihnen zeitliche Freiräume, wenn die Kinder über lange Zeit innerlich und äußerlich unabhängig sind. Ein „Laufstall” dient also der Sicherheit und Freiheit und sollte nicht zum Wegsperren missbraucht werden. Dann bewirkt er das Gegenteil.

3. „Nahe Feinde” vermeiden

Belohnung macht faul und Lob macht korrupt. Beides zerstört auf jeden Fall die intrinsische Motivation. Die subtile Gewalt liegt manchmal so nah an dem Guten, das wir eigentlich damit bezwecken wollen. Subtile Gewalt ist viel schwerer zu identifizieren als offensichtliche Gewalt. Deshalb können wir uns auch kaum dagegen wehren. Wenn wir spüren, dass etwas nicht stimmt, aber es nicht benennen können, vor allem als Kinder, dann sind wir verunsichert und verwirrt. Wir beginnen an uns selbst zu zweifeln. Wir haben in unserer Pädagogik viele Glaubenssätze, wie zum Beispiel, dass man Kinder loben und motivieren müsste, dass wir Präventionsprogramme gegen die steigende Gewalt in den Schulen bräuchten. Aber all das ist nur in einem Gewalt vollen System notwendig. Und es geht mir hier um diese subtile Gewalt, nicht um die offensichtliche. Schlagen ist inzwischen verboten, mit Lob zu manipulieren wird aber sogar gefordert. Mit Belohnungen wird ja heute sogar auf höchster Ebene in der Politik gearbeitet. Und die Menschen fallen darauf rein, weil sie nichts anderes gewohnt sind.

Lob und Tadel gehören zu ein und derselben Medaille, die uns das Leben eher schwer macht, und abhängig. Mehr Lob macht die Welt leider nicht besser und vor allem nicht ehrlicher. Es macht nur unsere Beziehungen schwieriger. Denn Lob und Tadel, Belohnung und Bestrafung dienen viel mehr den Zielen derjenigen, die sie verteilen, als denjenigen, die sie erhalten. Wie gut gemeint ein Lob auch sein mag, wie nett sich eine Belohnung auch anfühlen mag, beides kann auch etwas in uns zerstören. Im Grunde machen sie uns korrupt. Besonders wenn wir mit etwas belohnt, beschenkt, geködert werden, das Suchtpotential in sich trägt, z. B. mit einer Flasche Sekt (Alkohol), einer Tafel Schokolade (Zucker) oder auch mit Zeit an der Spielkonsole (Ablenkung). Ganz schlimm wird es, wenn wir mit Liebe belohnt werden. Im Wechsel mit Liebesentzug, das wissen wir, hat das fatale Folgen. Schon früh lernen Kinder dann, ihre Antennen auszufahren, um herauszufinden, was sie tun müssen, um gelobt und belohnt zu werden und möglichst mehr als die anderen Mitkonkurrent*innen. Und schwuppdiwupp sind sie von ihren eigentlichen inneren Bedürfnissen und dem eigenen inneren Antrieb abgelenkt. Sie wechseln auf die Spur, auf der sie das kapitalistische System braucht. Nun ist der Sinn des Lebens nicht mehr die Erfüllung der eigenen authentischen Bedürfnisse, sondern das Bestreben danach gut zu sein, besser zu sein als andere, anderen zu gefallen, es anderen recht zu machen, belohnt zu werden, Verluste zu vermeiden und Bestrafungen aus dem Weg zu gehen. Auch das löst schmerzhafte Gefühle aus, dessen Ausmaß wir noch gar nicht erfasst haben. In dem Versuch diese Gefühle zu betäuben kommen uns dann die Sektflaschen, Schokoladentafeln und versprochenen Zeiten an der Spielkonsole nur gerade Recht. Nur dass uns das gar nicht erfüllt und einen Kreislauf in Gang bringt, der vergleichbar ist mit einem alkoholkranken Menschen, der trinkt, weil er frustriert darüber ist, dass er trinkt. Die Nahen Feinde sind perfide. Sie zwingen uns permanent wachsam zu sein.Wenn z. B. damit argumentiert wird, dass Kinder, die viel gelobt und belohnt werden, bessere Schüler sind, dann heißt das nur, dass sie gute Noten haben. Es sagt aber nichts darüber aus, ob diese Kinder wirklich glücklich sind. Und es sagt auch nicht aus, ob sie dann als Erwachsene in ihren hochdotierten Jobs zufriedene Menschen sind, ob sie Liebes-und Beziehungsfähig, mütterlich, emotional intelligent, Gemeinschaft fördernd und Natur verbunden sind und ob sie gewaltfrei kommunizieren können.

4. Statt Erziehen das natürliche Streben bewahren

Es gibt Studien, in denen die angeborene Hilfsbereitschaft von Kindern untersucht wird. Dazu ließ z. B. ein Erwachsener wiederholt einen Bleistift von seinem Schreibtisch fallen. Die eineinhalb bis zweijährigen Kinder, die sich in einer Spielecke mit im Raum befanden, waren nur zu gerne bereit dem scheinbar hilflosen Erwachsenen zu Hilfe zu kommen. Und das sogar wiederholte Male. Kinder, die dafür belohnt wurden, verloren das Interesse daran. Das Leben von anderen zu bereichern scheint ein Grundbedürfnis zu sein und muss also nicht anerzogen, sondern nur bewahrt werden.

Zitat: „Das Ergebnis verwunderte. Die Belohnung senkte die Hilfsbereitschaft der Kinder. Sie zerstörte ihren -so glaubt Warneken -natürlichen Altruismus. Kinder sind per se motiviert zu helfen … Wer sie für ihre Hilfeleistungen belohnt, der schwächt dadurch ihren inneren Drang, helfen zu wollen. Ähnliches sagt der Psychologe Edward Deci von der University of Rochester. In einem seiner Experimente belohnte er Kinder etwa fürs Puzzlespielen – also für eine Tätigkeit, die sie von sich aus gerne ausführen. Wiederum wirkte die Belohnung destruktiv. … Jene Kinder, die Süßigkeiten fürs Puzzeln bekamen, verloren schneller die Freude daran als Kinder, die gar nicht entlohnt wurden. Mark Lepper schließlich, Psychologe an der Universität Stanford, wies bereits vor Jahren nach, dass sich die Fähigkeit von Kindern, Denksportaufgaben zu lösen, auf eine ganz einfache Weise zerstören lässt: indem man ihnen eine Belohnung verspricht. … mittlerweile belegen mehr als 100 Studien, dass Belohnung die Eigenmotivation schwächt. … Und diese Aussage gelte nicht nur fürs Kinderzimmer, sondern auch in den Bürogebäuden und Produktionsstätten erwachsener Menschen, wo man glaubt, dass am ehesten Geld, Urlaub oder Sonderzahlungen die Leistungsbereitschaft steigerten. Das Gegenteil sei der Fall … wer für seine Arbeit bezahlt wird, der folgert unwillkürlich, dass er nicht um der Sache selbst willen arbeitet, sondern nur fürs Geld – und das sei eine fatale Umdeutung. Ein profaner äußerer Anreiz schiebe sich dann über das ursprünglich hehre innere Handlungsmotiv. … Plötzlich beginnt der Mensch, den Wert seiner Arbeit zu messen und mit anderen zu vergleichen. Er verwandelt sich zum Erbsenzähler. Warum, fragt er sich, arbeite ich eine Stunde länger als der Kollege und verdiene trotzdem 100 Euro weniger im Monat? … Nichts sei idiotischer, als einen Menschen für das zu belohnen, was er ohnehin gerne macht.” aus »Geld macht faul« von N. Westerhoff, Süddeutsche Zeitung vom 17.05.2010.

Die Belohnung sollte also in der Sache selbst liegen, in der Begeisterung für das, was wir tun und und in unserem eigenen Erfolgserlebnis. Was wiederum sehr für ein bedingungsloses Grundeinkommen spricht. Es schreit förmlich danach. Und die Betonung liegt auch hier, wie bei all dem anderen, auf Bedingungslos.

5. Der „Nahe Feind” liegt oft haarscharf neben dem eigentlichen Bedürfnis

Vor allem in der Geschäftswelt ist es modern geworden, den Angestellten mehr „Wertschätzung” zu geben. Ganze Seminare gibt es inzwischen dazu. Die Verwechslung mit Lob und Belohnung liegt hier sehr nahe. Und tatsächlich dienen diese beiden viel eher einer freundlichen Manipulation als echter Wertschätzung. Es sind Geschenke, mit denen ein Arbeitgeber versucht, seine Angestellten zu motivieren und zu manipulieren. Sie sollen ja weiterhin so gut, oder eigentlich bitte noch etwas mehr und noch etwas besser arbeiten. Im Business geht es darum, viel und immer mehr zu leisten. Und schon in der Schule werden die Kinder darauf vorbereitet, dass im Leben vor allem Leistung und Belohnung (Geld) zählen. Erst gibt es gute und schlechte Noten, später gibt es viel oder wenig Geld. Echte Wertschätzung sieht anderes aus. Und Geld oder ein Lob erfüllen unsere Bedürfnisse nach Wertschätzung, Anteilnahme, Anerkennung und Unterstützung eher nicht. Geld sollte jedem Menschen zur Verfügung stehen, und zwar unabhängig davon, was wir leisten. Es sollte ein Menschenrecht sein genug davon zu haben, weil es uns Sicherheit gibt, weil es uns sozial teilhaben lässt und weil es uns Würde verleiht. Und weil es vielen Müttern ermöglichen würde, ihre Kinder in Frieden und Würde aufwachsen zu lassen, vor allem unabhängig von einem u. U. gewalttätigen Ehemann, der das Geld nach Hause bringt. Das sind politische Fragen, für die wir uns zwar einsetzen können, letztendlich haben wir es aber nicht wirklich in der Hand.

Lob aber können wir schon heute und überall mit echter Wertschätzung und Anteilnahme und Unterstützung ersetzen. Wir können uns selbst überprüfen. Welches Bedürfnis möchte ich mir selbst erfüllen, wenn ich jemand anderem eine Belohnung verspreche? Wir können uns selbst fragen, möchte ich eine andere Person wirklich Bedingungslos unterstützen, wenn ich sie lobe, oder möchte ich sie für meine eigenen Ziele manipulieren. Die große Veränderung im Kleinen kann mit dieser mutigen Ehrlichkeit beginnen.

6. Das können wir tun

Wir können unseren Kindern ihre natürliche intrinsische Motivation bewahren, in dem wir auf ihre authentischen Bedürfnisse eingehen. Wir bieten ihnen sichere Räume an, in denen sie ungestört ihre „Arbeit” tun können. Sie wollen ja gar nichts anderes, als sich zu eigenständigen, verantwortungsvollen Menschen zu entwickeln. Anstatt sie zu belehren, unterstützen wir vorbehaltlos ihre individuell ausgeprägten sensitiven Phasen. Dann werden gute und schlechte Noten, Lob und Tadel, Belohnung und Bestrafung gar nicht mehr notwendig sein. Und ein Mensch, der dies nicht (mehr) tun muss, also dieses ständige Bewerten, ist ja selbst auch viel freier und kann viel mehr in seiner Liebe sein und wird dadurch automatisch auch wieder viel mehr Lebensfreude und Begeisterung spüren. Menschen, die frei sind von dem Druck, dass ihre Kinder oder Schüler*innen ein Lernziel zu erreichen haben, das sie auch noch bewerten müssen, werden sich selbst auch viel mehr von ihren authentischen Bedürfnisse erfüllen können und einen ganz anderen, natürlicheren Lebens-Sinn erleben. Es ist ungemein entspannend, dieses mühsame Besserwissenmüssen mit entspanntem Beobachten und aktivem Zuhören zu ersetzen. Wenn der Leistungsdruck auf beiden Seiten sinkt, werden wir die eigenen Bedürfnisse u.a. nach Teilhabe und Mitfreude und dem gemeinsamen Feiern unserer Erfolge viel mehr genießen können.

Ein Beispiel wie mit umgestalteter Umgebung die „Spur” gewechselt werden kann, haben einige mutige Bürgermeister bewiesen. In Schweden und Süddeutschland gibt es Modellversuche dieser Art. Man hat die Bereiche für Fußgänger*innen und Fahrradfahrer*innen verbreitert, den öffentlichen Nahverkehr ausgebaut und die Spuren für die PKWs einspurig und schmal gemacht. Allein dadurch ist es heute für Autofahrer*innen nicht mehr attraktiv, in die Innenstädte hineinzufahren. Schmale Einbahnstraßen ohne Parkmöglichkeiten anzubieten, löst also das Lärm-und Abgas-Problem verstopfter Städte ganz von selbst. Es macht schlichtweg keinen Spaß und auch keinen Sinn mehr. Die Innenräume der Städte werden automatisch beruhigt, menschenfreundlicher und für Kinder sicherer. Öffentliche Straßen und Plätze werden wieder zu Begegnungsräumen, das Wohnen wieder angenehm und erholsam. Und vielleicht geht es noch einen Schritt weiter. Unter dem Pflaster liegt dann vielleicht nicht nur der Strand, sondern auch der Allmende urbane Gemüsegarten. Beispiele dafür gibt es schon in so manch einer Stadt. Rudger Bregmann beschreibt in seinem Buch „Im Grunde Gut” noch ganz andere erfolgreiche alternative Modellversuche z. B. in Norwegen. Verurteilte Straftäter werden nicht im Gefängnis eingesperrt und bestraft, sondern leben auf einer Insel, wo sie unterstützt werden, gemeinsam und in Augenhöhe mit ihren Betreuern die elementaren Dinge des Lebens zu üben.

Wir können Lob und Belohnung mit Anteilnahme, Unterstützung, Mitfreude und echter Wertschätzung ersetzen. Ein Arbeitgeber kann echte Wertschätzung damit ausdrücken, dass er sich nach dem Wohlbefinden seiner Mitarbeiter*innen erkundigt. Er kann Klagen und Streit im Kollegium ernst nehmen und die Arbeitsbedingungen mehr den menschlichen Bedürfnissen anpassen. Durch mehr Sicherheit kann Existenzangst reduziert, durch mehr Gerechtigkeit kann Konkurrenzstress vermieden werden. Das eigene Bedürfnis nach Sinn, Erfolg, Wirksamkeit und Effektivität kann ein Unternehmer sich selbst ja auch mal durch glückliche, zufriedene Mitarbeiter*innen erfüllen. Das eigene Glück kann vielleicht auch darin bestehen, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich Menschen wohl fühlen, gerne zur Arbeit kommen, miteinander kooperieren, sich selbst mit Begeisterung weiter entwickeln und das Projekt aktiv unterstützen.

Unsere gewohnte Verurteilung und Ablehnung der negativ konnotierten Gefühle können wir gegen ein liebevolles Wohlwollen eintauschen, uns selbst und anderen gegenüber. Eifersucht und Neid sind keine schlechten Charaktereigenschaften, sondern schmerzhafte Gefühle, die auf einen Mangel hinweisen. Genauso ist es mit den Gefühlen Angst, Ärger, Scham, Wut und Trauer. Sie alle sind wichtige, ernstzunehmende Seismografen, die uns auf unerfüllte Bedürfnisse hinweisen.

Ich kann damit beginnen, mich selbst zu hinterfragen und alle meine Motive zu überprüfen. Aus welchen Gründen tue ich überhaupt etwas? Tue ich es aus Verlustangst? Oder möchte ich meine schmerzhaften Gefühle betäuben? Ist mein Antrieb, positiv konnotierte Gefühle zu pushen, weil ich denke, dass mich das glücklich macht? Ich kann ehrlich zu mir selbst werden und mich fragen, welche Bedürfnisse ich mir selbst erfüllen möchte, wenn ich den Drang verspüre, einen anderen Menschen zu motivieren oder ihn gar zu manipulieren.

Ich kann üben, immer alle Bedürfnisse auf meiner Platte gleichermaßen im Blick zu haben, vor allem die Komplementär-Pärchen: Autonomie & Verbindung, Entwicklung & Regeneration, Körperliches Wohlbefinden & Sinn. Und ich kann überprüfen, ob meine altvertrauten Gewohnheiten wirklich hilfreich sind, um mich körperlich, seelisch und geistig rundum satt und zufrieden zu machen. Meine eigenen Strategien zu verändern, das liegt allein in meiner Hand. Mit dieser Klarheit durchs Leben zu gehen, das ist die Freiheit, die ich meine. Zu dieser Eigenmacht zurückzufinden, darin können wir uns gegenseitig unterstützen. Ein hilfreiches Werkzeug sind die Gesprächskreise rund um die Bedürfnisplatte.

Für Menschen, die nicht in unserem Einzugsbereich wohnen, bieten wir seit Januar 2022 regelmäßige Online-Meetings zum gemeinsamen Üben an der Bedürfnisplatte an.

Hinweis
Die gekürzte Sonderausgabe WALNUSSblatt Nr. 3 mit Li Shalimas Artikel („Frei willig zum Frieden“) kann auch hier als PDF Datei gelesen und heruntergeladen werden:

Das WALNUSSblatt – Magazin für Geist, Herz und Verstand, erscheint vier Mal im Jahr und kann einzeln bestellt oder abonniert werden:


Literaturempfehlungen

„Erziehung zum Sein” von Rebeca Wild (Thema: Vorbereitete Umgebung, Sensitive Phasen), Arbor Verlag

„Im Grunde gut” von Rudger Bregman, Rowohlt Taschenbuch Verlag

„Familie als Beginn” von Fricka Langhammer (Thema Matriarchat), Christel Göttert Verlag

„Immer auf Sendung … Nie auf Empfang” von Kate Murphay (Thema Aktives Zuhören), Mosaik Verlag

„Wo kleine Kinder groß werden”, Film über das Kinderheim Lóczy, DVD


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