Kindheit, Schule und die Welt verbessern
Wußten Sie, daß viele staatliche Schulen in den Ferien geöffnet sind? Ja, wirklich. In den Ferien können Kinder von 8.00 bis 17.00 in der Schule viel Spaß und Freude beim betreuten Spiel auf dem Schulhof oder beim Ausflug auf den Spielplatz haben.
Yeah. Endlich Ferien! Immerhin gibt es dann keine Noten für die Gewinnquote bei Mensch ärgere dich nicht oder beim Kickern in der Pausenhalle. Mittags versorgt die Küchenfee die Kinder mit Kohlenhydraten und nachmittags oder abends werden sie glücklich und zufrieden von Mama oder Papa abgeholt.
Ferien sind so schön. Wenn nur das frühe Aufstehen nicht wäre und der Besuch der Schule und schon wieder die Betreuer aus dem Ganztag und dieselben Spiele und derselbe Schulhof und der gleiche aufgewärmte Kartoffelbrei wie immer …
Liebe Erwachsene, gehen Sie auch zur Arbeit, wenn Sie Urlaub haben? Was ist Ihnen wichtig, wenn Sie im Urlaub sind? Was wünschen Sie sich von Ihren Urlaubstagen? Genau. Entspannung und Abwechslung.
Nicht alles ist schlecht in der Schule. Die Ferienzeiten sind zum Beispiel sehr sinnvoll. Kinder brauchen Zeit für sich und Phasen der Muße. Kinder brauchen Freiraum, um kreativ zu sein und die Möglichkeit zur Selbstbestimmung. Der Schulalltag in der Regelschule ist so konstruiert, daß die Ferien die Schulzeit ergänzen. Jede Lehrkraft weiß, daß Kinder irgendwann ferienreif sind. Nach den Ferien sind die Konzentrationsfähigkeit und die Ausdauer wieder deutlich höher.
Die Lebenswelt vieler Kinder besteht aus täglich gutgemeinter Betreuung und Monotypie: aufstehen, Nintendo, Schule, Betreuung, Nintendo, schlafen. Immer wieder. Denn Eltern haben generell wenig Zeit. Sie müssen den Alltag bewältigen, Geld verdienen und die Social-Media-Kanäle bedienen. Da bleibt wenig Zeit für Kinder, denn die sollen es einmal besser haben. Manchmal arbeiten beide Elternteile, um sich das Leben mit Kindern überhaupt leisten zu können. Andere brauchen zwei Einkommen für den Skiurlaub im Winter und die Kreuzfahrt im Sommer.
In erster Linie brauchen Kinder ihre Familie. Sie brauchen familiäre Strukturen, um sicher und geborgen aufwachsen zu können. Schon während der Schwangerschaft und der Geburt entwickelt das Kind entweder ein Urvertrauen in die Mutter oder das erste Mißtrauen in das Menschsein entsteht. Ein kleiner Mensch braucht den Herzschlag der Mutter, um die Welt nach und nach zu erfahren. Die Zuverlässigkeit und Beständigkeit der Mutter ist ausschlaggebend für das zunehmende Vertrauen des Kindes in die eigenen Kräfte. Je größer und verläßlicher die Familie ist, desto geborgener fühlt sich ein Kind. Liebevolle Betrachtung und wohlwollende Begleitung ermöglichen dem Kind, sich vertrauensvoll der Welt zu öffnen. Lernprozesse verlaufen nachhaltiger, wenn sich das Kind gut und aufgehoben fühlt.
Wenn wir die Kindheit im Hier und Jetzt auf den Prüfstand stellen wollen, dann beginnt die Veränderung bei jeder Mutter und jedem Vater. Es gilt, die familiären Strukturen wiederherzustellen. Ein Kind braucht nicht nur Mutter und Vater, sondern eine Familie. Darüber hinaus braucht es ein Zuhause mit Nachbarn und Spielkameraden. Wenn sich die Lebenswelt erweitert, dann doch vor Ort und überschaubar. Im Garten spielen, mit den Nachbarskindern treffen und zu Hause Mittagessen wären ideal, um sich mutig der großen weiten Welt zu stellen.
Leider werden immer mehr Kinder schon ab einem Alter von sechs Wochen in der Krippe betreut. Mit einem Jahr den Kindergarten zu besuchen, ist normal geworden. „Mein Kind war zu Hause total unterfordert. Es brauchte den Input von anderen Kindern …“ So ein Blödsinn.
Das Gefühl, in der Krippe allein zurückgelassen worden zu sein, führt zu den ersten Traumata. Das war es dann mit Urvertrauen und nachhaltigen Lernprozessen.
Es spricht nichts dagegen, ein Kind mit vier Jahren in den Waldkindergarten zu geben. Viele Erzieher ermöglichen auch den Eltern, die erste Zeit dabei zu bleiben und einen behutsamen Einstieg zu ermöglichen. Allerdings brauchen manche Kinder noch weiter die Zeit und Muße zu Hause und in der vertrauten Umgebung. Es ist den Kindern gegenüber nicht fair, einen sozialen Druck aufzubauen, daß der Kindergarten besucht werden muß und darüber hinaus noch beide Elternteile Geld verdienen müssen.
Der Termin zur Einschulung ist gesetzlich festgelegt. Mit spätestens sieben Jahren werden aus Kindern Schüler. Auf jedem Einschulungsfoto ist ein strahlendes Kind mit Zuckertüte abgelichtet. Stolze Eltern, stolze Kinder. Die Erzieher aus dem Kindergarten tauschen sich mit den Lehrkräften aus und so entsteht ein erster Eindruck von der Leistungsfähigkeit des Schülers. Die ersten Wochen ermöglichen eine ausführliche Eingangsdiagnostik, so daß die ersten Ordner gefüllt sind. Die Eltern werden auf dem Elternsprechtag zu ihren Kindern befragt. Der ist erst im Februar? Na ja, die Lehrkräfte sind ja erfahrene Pädagogen, die wissen schon, was sie tun.
Zwischen Einschulung und Herbstferien werden die Kinder auf ein Niveau gebracht, damit der Frontalunterricht mit drei Differenzierungsstufen und Extramaterial für die inklusive Beschulung funktioniert. Alle müssen zuhören, alle bekommen ein individualisiertes Arbeitsblatt, jetzt still arbeiten, jetzt wegräumen und als Hausaufgabe erledigen, jetzt Frühstück herausholen, Zeit ist um, nun gehen alle raus. Schneller! Ich habe nicht ewig Zeit!
Jedes Kind entwickelt sich nach seinem Rhythmus. Entwicklungsunterschiede von vier Jahren sind keine Seltenheit. Eine Beschulung im Gleichschritt ist aus rein pädagogischer Sicht sinnlos. Meine mütterliche Betrachtungsweise lasse ich lieber an dieser Stelle außen vor.
Wenn Kinder eingeschult werden, befinden sie sich meist noch in der ICH-Phase. Der Waldkindergarten würde ihnen die Lernerfahrungen bieten, die sie in dieser Phase nachhaltig verarbeiten können. Sie müssen mit allen Sinnen begreifen und brauchen konkrete Erfahrungen, die sie am besten im freien Spiel bekommen. Sie sind mit sich beschäftigt und sehen sich als den Mittelpunkt der Welt. Kinder in der ICH-Phase brauchen die Natur, das freie Spiel, Freiraum, ausreichend Selbstbestimmung und andere Kinder als Spielgefährten.
Die Schule könnte direkt an den Waldkindergarten anschließen und den Kindern so eine Einschulung ermöglichen, die ihrer Entwicklung entspricht. Die Lernfreude bleibt erhalten und die Kinder können sich ihren Bedürfnissen entsprechend weiterentwickeln. In allen Bundesländern gründen sich Natur- und Draußenschulen, die genau an dieser Stelle einen Schwerpunkt setzen. Sie wollen Kindern ermöglichen, sich im Einklang mit der Natur weiterzuentwickeln. Damit sind sie den Konzepten der staatlichen Schulen weit voraus.
Im Anschluß an die ICH-Phase kommen die Kinder in das regelmachende Alter und damit in die DUPhase. Sie sind nicht mehr nur mit dem eigenen Erleben beschäftigt, sondern nehmen das Gegenüber wahr. Ab jetzt diskutiert das Kind über Vereinbarungen und Gegebenheiten. „Das ist aber ungerecht“, kennt wohl jede Lehrkraft oder Mutter. Ab jetzt werden in der Familie und auch in der Schule Diskussionen geführt, Abmachungen getroffen und wieder über den Haufen geworfen.
In den demokratischen Schulen werden in Schulversammlungen die Regeln des Schulalltages immer wieder überarbeitet und neu ausgerufen. Konflikte werden dort geklärt und führen zu neuen Vereinbarungen. Jeder Schüler und jeder Lehrer hat das gleiche Stimmrecht und jeder ist angehalten, sich nach seinen Möglichkeiten zu beteiligen und die Schule so mitzugestalten.
Das Netzwerk an demokratischen Schulen ist groß und viele Schulgründungsinitiativen orientieren sich an den bestehenden Konzepten, die den Schwerpunkt Mitbestimmung verfolgen. Die staatlichen Schulen sind nach den Erlassen angehalten, einen Klassenrat und einen Schülerrat zu initiieren. Offen bleibt, ob dieser wirklich zu mehr Mitbestimmung führt. Auch hier können sich die Regelschulen ein Beispiel an den Konzepten der Freien Schulen nehmen.
Mit der Pubertät kommen die Kinder in die WIR-Phase. Sie sind nicht mehr nur mit ihrer Familie und der Lerngruppe beschäftigt, sondern sehen sich als Teil der Gesellschaft. Werte und Normen spielen nun eine Rolle und somit auch das menschliche Miteinander. Wenn Kinder die Gestalter der Zukunft sind, dann sollten sie als Jugendliche die Möglichkeit bekommen, ihren Horizont zu erweitern und emotionale, sowie soziale Kompetenzen ebenso wie kognitive Fähigkeiten weiterzuentwickeln.
Es gibt Schulen, die das Unterrichtsfach „Verantwortung“ anbieten. Der Schüler entscheidet sich für ein Projekt, indem es in erster Linie darum geht, Verantwortung zu übernehmen. Vielleicht möchte er in einem Pflegeheim für sechs Wochen ein Praktikum machen, oder aber bei der Tafel mitarbeiten oder sechs Wochen lang sein Leben vegan gestalten. Der Schüler wählt den Lernort selbst aus, organisiert sein Projekt und erstellt eine Präsentation. Im Vordergrund steht allerdings die persönliche Erfahrung, wirklich Verantwortung übernommen zu haben und damit ein Stück in die Erwachsenenwelt gerückt zu sein.
Andere Schulen bieten das Unterrichtsfach „Herausforderung“ an. Die Schüler wählen ein Projekt aus, daß nicht vor Ort durchgeführt werden kann und mit einem Budget von 150 Euro auskommen muß. Welcher Herausforderung wollen sie sich stellen? Ist es ein Wanderweg von 200 km oder eine Radtour? Es gibt viele sportliche Projekte, die Jugendliche ihre Grenze spüren lassen und Ausdauer und Durchhaltevermögen einfordern. Oft ist eine Begleitung nötig, die aber nur im Notfall eingreifen darf. Im Anschluß präsentieren die Jugendlichen ihr Projekt und berichten stolz, wie sie sich mutig und entschlossen ihrer Herausforderung gestellt haben.
Lehrervorträge im 45-Minuten-Rhythmus, Stillarbeit und Hausaufgaben können niemals die Lernprozesse hervorbringen, die Projekte wie „Verantwortung“ und „Herausforderung“ mit sich bringen. Emotionales und soziales Lernen ist nur möglich, wenn Schüler tatsächlich sich selbst erleben und wirkliche Erfahrungen sammeln können.
Die staatlichen Schulen setzen dagegen auf Digitalisierung. Smartboards, Tablets und Lern-Apps bieten aber nur Informationen, niemals echte Erfahrungen. Meiner Meinung nach sollte digitalisiertes Lernen nur im Ausgleich mit Lernen in der Natur stattfinden und erst ab der weiterführenden Schule. Im Vordergrund sollten die Bedürfnisse der Schüler stehen. In der Grundschule brauchen sie konkrete Erfahrungen, schließlich Mitbestimmung und in der Oberschule die Chance, sich in der Erwachsenenwelt einen Platz zu erobern. Wenn sich die Schule an den Bedürfnissen der Schüler orientieren will, dann muß sie unweigerlich Veränderungen zulassen und das Monopol an Bestimmung abgeben. Der Unterricht paßt sich dann nicht mehr den Lerninhalten und der Lehrkraft an, sondern den Bedingungen, die die Schüler vorgeben. Der Schüler ist dann nicht weiter Statist, sondern wird zum Regisseur seines Lebens. In Folge gestalten die Schüler die Schule mit und dürfen kreativ sein.
Die Schule ist nicht mehr ein Ort der Fremdbestimmung und Unterordnung, sondern wird zu einem Lebensort. Dann wird Lernen zu Leben und als ganzheitlicher Lernprozeß verstanden.
Lernen funktioniert am besten in einer ausgeglichenen, harmonischen Atmosphäre. Wenn nun das Interesse auf etwas fällt, das Verwunderung hervorbringt, dann beschäftigt sich der Mensch damit, weil er es in seine Erfahrungswelt einbauen möchte. Er ist intrinsisch motiviert und sieht einen Sinn darin, sich damit zu beschäftigen. Es braucht Zeit und Muße, sich damit auseinanderzusetzen. Jeder Mensch hat eine andere Herangehensweise, die er verfolgt, um zu lernen. Die Hirnforschung beschreibt recht deutlich, welche Bedingungen erforderlich sind, um erfolgreich lernen zu können.
In vielen freien Schulen entscheiden die Schüler selbst, wann und wie sie etwas lernen. Es gibt keine 45-Minuten-Taktung, keine Klasseneinteilung nach dem Alter, keine Noten und keinen Druck. Sie bieten den Freiraum an, der den Lernprozessen nach der aktuellen Hirnforschung entspricht. Gleichzeitig bleibt die Lernfreude der Schüler erhalten, weil diese vom Grad der Selbstbestimmung abhängig ist. Die Schule macht auf einmal Spaß. Dann werden aus Schülern wieder Kinder und Jugendliche. Dann sind alle Beteiligten in der Schule Menschen, die ihr Leben in der Schule ausgestalten dürfen.
Was passiert eigentlich, wenn Schule Spaß macht? Dann brauchen Kinder keine Ferien! Dann ist niemand ferienreif. Dann brauchen sie keine Entspannung und Abwechslung, denn das haben sie jeden Tag in ihrem Leben zu Hause und in der Schule.
Nur die Eltern, die immer noch ohne Freude und mit viel Druck zur Arbeit gehen, um den Kindern eine Kreuzfahrt zu ermöglichen, die brauchen Entspannung und Abwechslung. Fraglich ist nur, ob wirklich die Kinder die Kreuzfahrt brauchen, oder doch eher die Eltern …?
Kinder brauchen die liebevolle Betreuung der Eltern und keine Aufbewahrung. Außerdem müssen sich die Schulen an ihren Bedürfnissen orientieren. Ein gutes Leben ist mehr als Aufbewahrung, Kompetenzerwerb und Konsum.
Liebe Erwachsene, wie sehen denn Ihre Familienstrukturen aus? Geben Sie niemals die Verantwortung für Ihr Kind ab. Niemand hat Ihr Kind so lieb wie Sie. Sie sind verantwortlich für die Entwicklung Ihres Kindes und damit auch für seine Zukunft. Wenn wir die Welt verändern wollen, dann müssen wir bei uns selbst anfangen. Wenn Sie noch mehr verändern wollen, dann gründen Sie eine Freie Schule!
Eine gute Schule führt zu der Potentialentfaltung, die kreative Lösungen für die Zukunft der Menschen hervorbringt. Deshalb brauchen wir dringend noch mehr freie Schulen, die den staatlichen Schulen zeigen, wie es funktionieren könnte.
Unter www.biancahoeltje.de findest du ein Netzwerk an Schulgründungsinitiativen und wöchentliche Webinare zu einzelnen Bausteinen des Schulgründungsprozesses. Werde Mitglied und werde zu einem Weltveränderer. Für deine Kinder und die Zukunft!
Erschien in der 8. Ausgabe des WALNUSSblatt-Magazins
Das Magazin mit dem Artikel von Bianca Höltje („Kindheit, Schule und die Welt verbessern“) können Sie hier als PDF-Datei kostenlos lesen und herunterladen: