Antidepressiva und Neuroleptika risikoarm absetzen
Worauf müssen Ärztinnen und Ärzte, Psychiater inklusive, sowie Betroffene und Angehörige beim Reduzieren und Absetzen achten? Welche Hilfen sind möglich, wenn man mit dem Absetzen alleine nicht klarkommt?
Psychopharmaka werden millionenfach verschrieben. In ihrer Ausbildung lernen Ärzte, wie man sie verabreicht. Jedoch nicht, wie man sie wieder absetzt. Die Verabreichungszahlen steigen ständig. Auch in Altersheimen stellt man immer mehr störende und unbequeme Menschen mit Psychopharmaka ruhig. Seid froh, wenn Ihr noch nicht betroffen seid.
Auf der Leipziger Buchmesse
Dieses Jahr habe ich gemeinsam mit dem kritischen englischen Psychologen Craig Newnes ein neues Buch »Psychopharmaka reduzieren und absetzen – Praxiskonzepte für Fachkräfte, Betroffene, Angehörige« herausgegeben. Das Thema beschäftigt mich schon seit 45 Jahren. Ich habe viele Vorträge gehalten und Fortbildungen gemacht, auch in psychiatrischen Kliniken, und Bücher darüber publiziert. Unter anderem im Jahr 1998 »Psychopharmaka absetzen – Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Ritalin und Tranquilizern«, das weltweit erste Buch zum erfolgreichen Absetzen von Psychopharmaka. Es besteht vorwiegend aus Einzelberichten von Betroffenen und Beiträgen von niedergelassenen Ärzten, Psychologen und Heilpraktikern. Für mein Engagement wurde ich 2010 mit dem Ehrendoktortitel der Aristoteles-Universität Thessaloniki und 2011 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Das neue Buch stellte ich kürzlich auf der Frühjahrsbuchmesse in Leipzig vor. Dabei beantwortete ich unter anderem diese Fragen:
Wieso braucht es ein solches Buch?
Fünf bis zehn Prozent der Erwachsenen hierzulande bekommen mit ständig steigender Tendenz Antidepressiva verordnet wegen allen möglichen Problemen, von Depressionen über Schlafstörungen bis hin zu posttraumatischen Belastungsstörungen und chronischen Schmerzzuständen. Auch Neuroleptika werden ständig mehr verordnet. Dabei ist das Risiko der Medikamentenabhängigkeit bei beiden Substanzklassen seit den 1950ern bekannt, die Entzugssymptome sind vergleichbar dem Alkohol- oder Morphiumentzug und treten ungefähr bei der Hälfte der Betroffenen auf: Reizbarkeit, Verwirrtheit, Sinnes- und Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Tinnitus, Herzprobleme, Übelkeit, Durchfall, Schwindel, Muskelstörungen. Deshalb können viele Medikamente nicht mehr absetzen. Und wenn sie um ärztliche Hilfe bitten, sagt man ihnen, ihre Entzugsprobleme seien Symptome eines Rückfalls, sie sollten einfach ihre Psychopharmaka weiterhin nehmen. Fehlinformationen über Abhängigkeits- und Entzugsprobleme, verweigerte oder inkompetente Hilfe beim Absetzen sowie unterlassene Absetzversuche und körperliche Abhängigkeit dürften zu einem volkswirtschaftlichen Milliardenschaden führen. Wo ist der mutige Gesundheitsökonom, der diese von der Versichertengemeinschaft zu tragenden Kosten hochrechnet, gar nicht zu sprechen von den immateriellen Schäden, nämlich der Einbuße der Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Familien.
Was ist problematisch an Antidepressiva und Neuroleptika?
Deren Wirkungsweise besteht aus einer Manipulation der natürlichen Nervenimpulsübertragung mit entsprechender Beeinträchtigung zentralnervöser und vegetativer Funktionen. Bei anhaltender Einnahme kann es zu einer Vielzahl von krankhaften Reaktionen kommen, unter anderem Diabetes, Bluthochdruck, Übergewicht und Herzrhythmusstörungen. Ihre behauptete rückfallverhütende Wirkung ist äußerst zweifelhaft. Dagegen steht das Risiko von Toleranzbildung, körperlicher Abhängigkeit, Wirkungsverlust, Behandlungsresistenz und einer kaskadenhaften Verordnung von immer mehr Psychopharmaka. Und die Lebenserwartung von Menschen mit ernsten psychiatrischen Diagnosen, die in der Regel die Verabreichung von Antidepressiva und Neuroleptika zur Folge haben, ist um durchschnittlich zwei Jahrzehnte reduziert. All diese Fakten führen dazu, dass erfahrungsgemäß drei Viertel aller Neuroleptika-Behandelten und die Hälfte aller Antidepressiva-Konsumenten früher oder später die verordneten Psychopharmaka abzusetzen versuchen.
Und was ist problematisch am Absetzen?
Den Betroffenen, ihren Familien und der Öffentlichkeit gegenüber wird die Abhängigkeitsgefahr geleugnet. Dies hat schlimme Folgen für die Betroffenen. Sie werden nicht über das Risiko der Medikamentenabhängigkeit aufgeklärt, es gibt keine solche Diagnose bei Antidepressiva und Neuroleptika, auch keine Differenzialdiagnose, um Entzugssymptome vom sogenannten echten Rückfall zu unterscheiden. Für Ärzte, die bei der Begleitung von Absetzprozessen viel Zeit aufwenden müssten, gibt es keine Abrechnungsziffern gegenüber Krankenkassen, für Betroffene keine Rehamaßnahmen. Laut Herstellerinformationen an Ärzte könne man Antidepressiva und Neuroleptika innerhalb von ein bis zwei Wochen absetzen – ein nach längerer Einnahmezeit verantwortungsloser Vorschlag. Viele Betroffene, aber auch gutwillige Ärzte, gehen dieser Desinformation auf den Leim und setzen viel zu schnell ab. Treten dann Entzugspsychosen oder reboundartige verstärkte Depressionen auf, finden Betroffene kein Verständnis und keine Unterstützung. Weitere Probleme sind zeitverzögert auftretende und damit schwierig als solche zu erkennende Entzugsprobleme sowie langanhaltende, sogar chronische Entzugssymptome.
Wie ließe sich das Absetzen idealerweise in Deutschland umsetzen?
Menschen müssten vor der Erstverabreichung über das Abhängigkeitsrisiko aufgeklärt werden. Das Thema gehört auch in die Ausbildung des ärztlichen Personals. Es werden dringend Beratungsstellen benötigt sowie finanzielle Anreize für ärztlich Tätige, Betroffene beim Absetzen zu unterstützen. Bei längerfristiger Einnahme müssen Antidepressiva und Neuroleptika vorsichtig und am Ende in immer kleineren Dosierungen ausgeschlichen werden. Da Hersteller die dafür nötigen kleinen Produkteinheiten nicht anbieten, müssen Ärzte über die im Buch beschriebenen Ausschleichstreifen und individuellen Rezepturen Bescheid wissen. Die wenigen, aber gerade in Deutschland entstandenen Leuchtturmprojekte vorbildlicher Absetzbegleitung müssen bekannt gemacht und großflächig umgesetzt werden.
Welche Leuchtturmprojekte werden im Buch vorgestellt?
2017 handelte Martin Zinkler als Chefarzt der Psychiatrischen Klinik Heidenheim aus, dass der Landkreis Heidenheim zur Modellregion für die Bereitstellung flexibler psychosozialer Dienste wurde. Im Buch beschreibt er die Abkehr von einem System, das die Belegung von Krankenhausbetten belohnt. Gemeinsam mit absetzwilligen Betroffenen erstellt man einen Absetz- sowie einen Krisenhilfeplan für den Fall, dass starke Entzugs- und Absetzprobleme auftreten. Sie werden ambulant und mit Telefoncoaching unterstützt. Bei zu starken Entzugsproblemen werden sie kurzfristig aufgenommen und vom Klinikteam, das dem Absetzen positiv gegenübersteht, durch die Krise begleitet. Anschließend wird der Absetzprozess weitergeführt.
2023 forderten die Weltgesundheitsorganisation und der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte die Staaten auf, Hilfeprogramme zu erstellen für Menschen, die ihre Psychopharmaka absetzen wollen. Unser Buch zielt genau in diese Richtung. Hier sind noch weitere menschenrechtsbasierte Projekte des sicheren Absetzens beschrieben, beispielsweise das Absetzen in der Bremer Ameos-Klinik unter Anwendung der zertifizierten dialektisch-behavioralen Therapie, das Absetzen in einer Psychiatrischen Institutsambulanz in Berlin-Neukölln, das Observatorium für Menschenrechte im psychosozialen Bereich in Thessaloniki, das ein Programm zur umfassenden Begleitung beim Absetzen entwickelt hat, oder die Selbsthilfeorganisation GAM im kanadischen Montreal, die Psychopharmakakonsumenten schult, wie sie mit Ärzten über das Absetzen verhandeln und Macht über ihre eigene Situation wiedererlangen können.
Praxiskonzepte und Leuchtturmprojekte sind eine Sache, die gegenwärtige Realität eine ganz andere. Erst am 6. Mai 2024 ließ der Präsident des deutschen Psychiaterverbands DGPPN verlauten, es gebe keinerlei Probleme mit dem Absetzen, alle Psychiater könnten kompetent beim Absetzen helfen. Die Realität ist leider, dass die Betroffenen in aller Regel keine ärztliche Unterstützung bekommen. Dann bleibt ihnen nur der Weg in die Selbsthilfe oder zu Online-Foren. Aber egal welchen Weg sie wählen: Sie sollten sich vor dem Absetzen über mögliche Entzugsprobleme und risikovermindernde Vorgehensweisen informieren. Auf meiner Website peter-lehmann.de/ex findet Ihr eine Vielzahl von Informationsquellen.
Vor allem sollte man nach längerer Einnahme von Antidepressiva und Neuroleptika behutsam und vorsichtig absetzen, sich gegebenenfalls Wochen, Monate oder gar noch länger Zeit lassen. Ein Patentrezept liefert das Buch nicht, »nur« verschiedene situationsangepasste Praxiskonzepte.
Erschien in der 14. Ausgabe des WALNUSSblatt-Magazins
Das Magazin mit dem Artikel "Antidepressiva und Neuroleptika ( (>>Antipsychotika>>) risikoarm absetzenkönnen Sie hier als PDF-Datei kostenlos lesen und herunterladen: